Bluma Zeigarnak

 

Bluma Zeigarnik, geb. Gerstein (* 27. Oktober bzw. 9. November [nach gregorianischem Kalender] 1901 in Prenn/russ. Gouvernement Kowno [heute Prienai/Litauen]; † 24. Februar 1988 in Moskau), Gestaltpsychologin

Die Eltern Wolf und Ronya Gerstein sind in der jüdischen Gemeinde geachtete Mitglieder. Sie sind gebildete, intelligente, aber nicht religiöse Juden. Der Vater ist Geschäftsinhaber in der Stadt.

Eine schwere, fast lebensbedrohende Meningitis verhindert den Schulbesuch für vier Jahre bis zum 15. Lebensjahr. In dieser Zeit erhält Bluma zu Hause Privatunterricht. Ab 1916 besucht sie in Minsk ein russisches Mädchengymnasium. Ihren Abschluss besteht sie 1918 mit Auszeichnung. Zur damaligen Zeit reicht der Abschluss eines Mädchengymnasiums allerdings nicht aus, um von einer Universität angenommen zu werden. Sie absolviert eine Ergänzungsprüfung und bereitet sich auf ein Studium vor. Gleichzeitig lernt sie ihren zukünftigen Mann in der Bibliothek kennen. 1919 heiratet sie Albert Zeigarnik.

Bluma Zeigarnik besucht von 1920 bis 1922 Vorlesungen an der Fakultät der Humanwissenschaften in Kowno. Am Institut herrscht eine liberale Atmosphäre. Zwischen Professoren und Studenten gibt es kaum Distanz. Trotzdem wird eine strenge Auswahl getroffen; nur die guten Studenten bleiben. 1922 schreibt sie sich als Gasthörerin an der philosophischen Fakultät der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin ein und besucht vor allem Germanistikvorlesungen. Gleichzeitig studiert ihr Mann am Polytechnischen Institut in Charlottenburg.

Nach Absolvierung der Ergänzungsprüfungen im Jahr 1925 wird Bluma Zeigarnik als ordentliche Hörerin an der Universität aufgenommen. Sie führt bereits erste Untersuchungen für ihren später berühmt gewordenen „Zeigarnik-Effekt“ durch, der beinhaltet, dass unerledigte Handlungen besser in der Erinnerung gespeichert werden als erledigte. Er wird heute noch gerne in der Werbung eingesetzt, viele TV-Serien sind ebenfalls so aufgebaut, dass Handlungen am Ende einer Folge offen bleiben, damit der Zuschauer zur inneren Erlösung die nächste Folge wieder einschaltet.

Die Arbeiten von Bluma Zeigarnik erscheinen 1927 in der Zeitschrift „Psychologische Forschung“ und bilden zugleich ihre Dissertation an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin.

Bis 1931 arbeitet sie teilzeitig als Forschungsassistentin am Berliner Psychologischen Institut. Dann geht sie mit ihrem Mann, der überzeugter Kommunist ist, zurück in die Sowjetunion. Beiden ist zu diesem Zeitpunkt nicht klar, in welche Gefahr sie sich begeben werden als jüdische Intellektuelle, die in Deutschland gelebt und studiert haben.

Gleich nach der Ankunft in Moskau erhält sie eine Arbeit an der Psychoneurologischen Klinik des Instituts für experimentelle Medizin der Moskauer Universität. Sie wird Lev Semjonowitsch Vygotskijs enge Mitarbeiterin. Nach seinem Tod 1934, der sie hart trifft, übernimmt sie seine Nachfolge als Leiterin der Psychoneurologischen Klinik.

1940 wird ihr Ehemann der Spionage für Deutschland beschuldigt und zu 10 Jahren Straflager verurteilt. Er kommt von dort nicht mehr zurück. Bluma bringt ihre zwei kleinen Söhne alleine durch.

Sie arbeitet während des 2. Weltkrieges an einem neurochirurgischen Krankenhaus im Ural. 1943 kehrt sie nach Moskau zurück. In ihrer Wohnung wird während ihrer Abwesenheit ein Unbekannter untergebracht, der einen großen Teil ihrer Bücher und Möbel verheizt. Mit großen Anstrengungen gelingt es ihr, wenigstens das Appartement zurück zu erhalten.

Seit 1949 unterrichtet sie an der Moskauer Universität Pathopsychologie, jedoch erwartet sie 1950 ein neuer Rückschlag mit Einsetzen einer antisemitischen Welle. Ihr deutsches Doktorat soll in der Sowjetunion nicht anerkannt werden. Eine zweite Dissertation, die sie fast fertiggestellt hat, wird von einem Kollegen in ihrer Wohnung gestohlen. Wieder wird sie von Vorgesetzten und Freunden unterstützt, die ihr Geld und alle möglichen Arbeiten verschaffen.

Als Stalin 1953 stirbt, verebbt die antisemitische Welle. Bluma Zeigarnik arbeitet erneut an der Moskauer Universität. Sie muss allerdings noch bis 1957 warten, bis sie als Leiterin des Laboratoriums für experimentelle Pathopsychologie zurückkehren kann.

Von nun an stabilisiert sich ihre Karriere. 1958 schreibt sie ihre dritte Dissertation und wird 1965 Professorin für Psychologie. 1967 unterrichtet sie Pathopsychologie auf einem Lehrstuhl der Lomonossow-Universität.

Behutsam werden nun auch wieder Kontakte jenseits der kommunistischen Grenzen geknüpft. Beim internationalen Kongress der Psychologie 1966 gibt es ein Wiedersehen mit Kolleginnen aus der Berliner Zeit. 1969 nimmt sie am Kongress für Psychologie in London teil und findet endlich auch Beachtung bei westlichen Wissenschaftlerinnen.

1978 erhält sie für ihre Arbeiten zu psychischen Störungen und Rehabilitation den höchsten Preis der Lomonossow-Universität. 1983 verleiht man ihr den Kurt-Lewin-Memorial-Award der internationalen Gesellschaft für psychologische Studien gesellschaftlicher Themen (SPSSI) für ihre wissenschaftlichen Arbeiten.

Bluma Zeigarnik wird von ihren Freunden als humorvoll, warmherzig, loyal und interessiert beschrieben. Für ihre fortgeschrittenen Studentinnen steht ihre Wohnung stets offen und an deren Leben und Problemen nimmt sie gerne Anteil.

Heute wird ihre bedeutende Rolle für die Pathopsychologie weltweit anerkannt. Ihre Arbeit über den „Zeigarnik-Effekt“ wurde allerdings erst im Jahre 2001 auf Russisch publiziert.