Justina Siegemund

 

Justina Siegemund (auch Justine Siegemundin), geb. Dittrich (* 26. Dezember 1636 in Rohnstock/Niederschlesien, † 10. November 1705 in Berlin) war Hebamme am brandenburgischen Hof und schrieb 1690 das erste deutsche Lehrbuch für Hebammen (zugleich der erste medizinische Text auf Deutsch, der von einer Frau veröffentlicht wurde).

Die berühmteste „Wehmutter“ Deutschlands im 17. Jahrhundert kommt als Tochter eines evangelischen Pfarrers zur Welt. Als Kind eines Geistlichen lernte sie lesen und schreiben. Ihr Vater stirbt, als sie 14 ist. 1655 heiratet sie den Renth-Schreiber Siegemund.

Im Alter von 21 Jahren erleidet sie ein traumatisches Erlebnis, als bei ihr fälschlich eine Schwangerschaft diagnostiziert wurde. Sie leidet unter starken Leibschmerzen und wird von 4 Hebammen auf schmerzlichste Art und Weise behandelt. Zwei Wochen lang hat jede versucht, eine Geburt einzuleiten. Man hat ihr die düstere Vorhersage nahegelegt, sie müsse wohl mit dem Säugling sterben. Erst ihr Mann und ihre Schwiegermutter können erlösende Abhilfe verschaffen, indem sie ein kundiges Soldatenweib herbeiholen. Diese ungelernte Frau hat mehr Verstand als all die Hebammen zusammen. Sie erkennt, dass die starken Krämpfe keinen Wehen sind, sondern eine Erkrankung der Gebärmutter. Justina erhält Medikamente vom Arzt und wird wieder gesund.

Die unnötigen Qualen, die Justine durch das Unwissen der Hebammen erleiden musste, veranlassen sie, sich intensiv mit der Medizin zu beschäftigen. Sie studiert die Anatomie des weiblichen Körpers und liest alle ihr zugänglichen Bücher. Bald entsteht das Bedürfnis, auch anderen Frauen zu helfen. Justine selbst wird allerdings keine eigenen Kinder haben. So entfaltet sich später ihr Wunsch, das „Hebammenbuch“ zu schreiben: „Es soll, weil ich keine Kinder zur Welt geboren, das seyn was ich der Welt hinterlasse.“

Als Nächstes sucht Justine die Hebammen auf, die ihr soviel Leid zugefügt haben. Sie erzählt ihnen von ihren neuen Kenntnissen, zeigt aufklärende Abbildungen aus medizinischen Büchern und vermittelt neues, nützliches Wissen. Die Hebammen nehmen diesen Unterricht gerne und dankbar an. Der Siegesmundin umfassendes theoretisches Wissen über die Geburtshilfe spricht sich schnell herum.

Sie ist 23 Jahre alt, hat noch keine praktische Erfahrung und wird von einer Hebamme zu einer besonders schweren Geburt gerufen. Diese Entbindung verläuft so erfolgreich, dass man sie von nun an öfters für derartige schwierige Fälle konsultiert. So entsteht eine Art Hebammentätigkeit.

12 Jahre lang arbeitet sie im näheren Umfeld. Vorwiegend hilft sie Müttern aus der ärmeren Bevölkerung, die kein Geld für Hebammen haben. Schon bald verbreitet sich ihr ausgezeichneter Ruf als „Wehmutter“ bis über die Gemeindegrenzen hinaus. Auch die reicheren Familien bedürfen ihrer Hilfe bei schwierigen Entbindungen oder gynäkologischen Problemen. Durch ihre Gespräche mit den Ärzten kann sie ihr Wissen noch erweitern.

Indessen hat schon ein Fürstenhof von Justinas Kunstfertigkeit vernommen. Um 1673 ruft man sie zu Luise von Anhalt-Dessau, der Witwe des Herzogs von Liegnitz-Brieg-Wohlau. Bei ihr diagnostiziert sie ein Geschwür in der Gebärmutter, welches sie mithilfe einer in die Gebärmutter eingeführten Bandschlinge erfolgreich entfernen konnte. Diese Technik hat Justina selbst entwickelt. Somit ermöglicht sie der ursprünglich todgeweihten Herzogin neun weitere Lebensjahre.

Dank dieser Leistung wird Justina Siegemundin 1683 Amtshebamme (Wehmutter) in Liegnitz, obwohl die preußische Hebammenverordnung vorschreibt, nur Frauen, die selbst geboren haben, dürfen als „Wehemutter“ aktiv sein.

Wissensreiche Hebammen sind in dieser Zeit sehr gefragt. Die zahlreichen Schwangerschaften bei der armen Bevölkerung sowie an den adligen Höfen setzen das Leben von Mutter und Kind häufig in Gefahr. Auch der „Große Kurfürst“ Friedrich Wilhelm von Brandenburg ruft Justina als „Chur-Brandenburgische Hof-Wehemutter“ an das Berliner Schloß. Jetzt kennt man ihren Namen auch weit über die deutschen Grenzen hinaus bis an die europäischen Fürstenhöfe. Ihre Fähigkeiten verrichtet sie nun sogar in Holland und England.

Am niederländischen Hof bedrängt man sie sogar, ein Lehrbuch zu verfassen und, mit anschaulichen Kupferstichen versehen, zum Druck freizugeben.

Nach dreijähriger Praxis präsentiert sie ihr Manuskript der medizinischen Fakultät zu Frankfurt an der Oder und erhält am 18. März 1689 die wissenschaftliche Anerkennung durch Testat.

Ihr Lehrbuch mit dem Titel „Die Königl. Preußische und Chur-Brandenb. Hof-Wehe-Mutter, Das ist: Ein höchst nöthiger Unterricht von schweren und unrecht-stehenden Gebuhrten etc.“ erscheint 1690 in Cölln an der Spree. Das Buch beschreibt die weibliche Anatomie, gynäkologische Operationen, Geburtsbett sowie Gebärstuhl und unterschiedliche Handgriffe, die eine erfolgreiche Geburt versprechen. Besonders der von ihr erfundene „doppelte Handgriff“ wird geschildert, der dann zur Anwendung kommt, wenn das Kind schräg oder quer liegt und die Fruchtblase bereits offen ist. Der Säugling wird mit Bandschlingen durch innere Handgriffe so gewendet, dass er mit den Füßen zuerst geboren werden kann. 1691 übersetzt Cornelis Solingen das Werk in die holländische Sprache und erreicht mehrere Auflagen.

Aber auch Feinde und Neider setzen der Autodidaktin mit Antischriften zu. Diesen weiß sich die kluge und erfahrene Hebamme allerdings fachkundig zur erwehren. Bis Mitte des 18. Jahrhunderts erreicht ihr Lehrbuch mehrere Auflagen. Mit Ausnahme von Paris gab es zu dieser Zeit noch keine Hebammenschulen, und ihr leichtverständliches Werk mit den hilfreichen Illustrationen dient als nützlicher Ratgeber und Lehrstoff. Es ist zugleich der erste deutsche Text, der von einer Frau verfasst wird.

Im Alter von 68 Jahren stirbt Justine Siegemund in Berlin. In ihrer Leichenpredigt wird angegeben: Im Laufe ihres Lebens holt sie 6199 Kinder auf die Welt, davon 20 kleine Fürsten und Fürstinnen.