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Franziska Vu

 

Mario Röllig

Geboren Oktober 1967 in Ost-Berlin. Er ist Homosexueller und lernt während eines Ungarn-Urlaubs seinen ersten Freund kennen, einen Bonner Politiker. Die Stasi wird auf den 19-jährigen aufmerksam und verlangt, dass er ihr „Inoffizieller Mitarbeiter“ (IM) wird. Er weigert sich. Daraufhin wird Röllig massiv unter Druck gesetzt. Als einzigen Ausweg sieht er die Republikflucht. Am 25. Juni 1987 versuchte er, über Ungarn nach Jugoslawien zu fliehen. Er wird jedoch gefasst und von der ungarischen Grenzpolizei dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS) übergeben.

Warum missglückte Ihr Fluchtversuch?
Ich wusste, dass an der „grünen“ Grenze zwischen Ungarn und Jugoslawien nur Soldaten kontrollierten; ohne Minenfelder und Stacheldraht, nicht wie an der innerdeutschen Grenze. Ich dachte, entweder schaffe ich es, oder ich werde erschossen. Die dritte Möglichkeit, verhaftet zu werden, hatte ich mir nie überlegt. Allerdings war mir nicht bekannt, dass die dort ansässigen Bauern im Nebenjob Grenzhelfer waren. Einer dieser Grenzhelfer entdeckte mich schon von weitem und verfolgte mich. Als der Abstand zwischen uns nur noch ca. 30 Meter betrug, forderte er mich auf, stehen zu bleiben und schoss in die Luft. Danach schlugen neben mir die Kugeln rechts und links ein. Der Bauer schien also recht gut zielen zu können. Ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt bin ich ausgerutscht und aus Angst liegen geblieben.

Wie wurden Sie von Budapest nach Hohenschönhausen gebracht?
Nach einer Woche wurde ich mit anderen Jugendlichen in die Garage des Polizeigefängnisses von Budapest gebracht. Dann ging es in einem Touristenbus zum Flughafen. Wir wurden direkt zur Gangway gebracht, Flugziel Ost-Berlin. Dort erwartete mich das gleiche Spiel, nur grausamer. An der Gangway stand ein Stasi-Mann mit Maschinenpistole und sperrte die Anderen und mich in einen kleinen Transporter B1000 ein. Der Transporter war äußerlich als Fahrzeug des „Centrum Warenhaus Berlin Alexanderplatz“ getarnt. Der bewaffnete Stasi-Mann fuhr hinten im Container mit. Zwei Fahrer trugen über ihren Stasiuniformen die Kittel des in der DDR bekannten Warenhauses. In meiner Angst fragte ich: „Wo komme ich denn jetzt hin, komme ich in das Zuchthaus Berlin–Rummelsburg, in das Gefängnis für Verbrecher?“ Der Stasi-Mann brüllte mich an und sagte einen typischen Standardsatz: „Solche wie Sie sind viel schlimmer, Sie werden schon sehen, wo wir Sie hinbringen. Wir müssen nicht nett zu Ihnen sein.“ Dann schloss sich für mich einer der fünf winzigen Käfige in dem Transporter. Mir wurden vorher Handschellen und Fußfesseln angelegt. Die Fahrt dauerte ca. fünf Stunden.

Wie erging es Ihnen dann in Hohenschönhausen?
Ich stolperte direkt aus dem dunklen Transporter in hellstes Neonlicht. Das plötzliche grelle Licht machte mir Angst. In der Schleuse / Garage des Gefängnisses standen die Stasi-Leute rechts und links Spalier. Sie trugen Reitstiefel, Reithosen und Gummiknüppel. Verprügelt haben sie uns nicht, aber sie schrieen und beleidigten uns. Wir mussten die Hände auf den Rücken halten und einem einzelnen Wärter in einem Meter Abstand durch den Gefängnisflur folgen. Es war eine sehr schreckliche Situation. Ich kam mir vor wie in einem Nazifilm, aber es war in meiner Heimat, der DDR. Das erste, was ich entdeckte, waren rechts und links in Augenhöhe angebrachte Drähte an der Wand. Der Wärter bemerkte dies und stellte klar: „Übrigens, das sind Alarmdrähte. Wenn Sie auf mich losgehen, dann ziehe ich daran und in wenigen Augenblicken kommt das Überfallkommando, und Sie werden ruhig gestellt. Das möchten Sie doch nicht, oder?“

Wie wurden Sie behandelt und verhört?
Während des Verhörs musste ich viele Stunden auf einem unbequemen Holzhocker sitzen. Das änderte sich zu besonderen Anlässen wie dem Unterschreiben von Geständnissen. In diesen Stunden durfte ich als „Vergünstigung“ auf einem gepolsterten Stuhl sitzen. Verhört wurde ich von insgesamt drei Stasioffizieren. Einer war der „gute Freund“, einer war die autoritäre Vaterfigur und der dritte kam dazu, wenn die anderen nicht weiterkamen und brüllte laut. Der „gute Freund“, der Untersuchungsführer in den Verhören, war eigentlich der Schlimmste, da er für mich das Idealbild für eine Beziehung oder Freundschaft gewesen wäre, aufgrund seiner Art und seines Aussehens. Ein Typ wie aus einem Modellkatalog: braun gebrannt, trug braun gewelltes Haar, hatte stahlblaue Augen und war gut gekleidet. Die Stasi wusste aus ihren Akten, dass ich schwul bin. Psychologisch geschickt setzten sie den „richtigen“ Offizier in den Verhören auf mich an. Das war grauenvoll und leider nicht ohne Erfolg. Der Stasi-Offizier hat mir durch seine freundliche Art mehr Informationen entlocken können als mir lieb war. Zum Beispiel schaltete er demonstrativ das Tonbandgerät aus und sagte: „Jetzt können wir ja mal frei reden. Erzählen Sie mir, wer Ihre Hintermänner bei Ihrer Flucht waren?“ In Wirklichkeit liefen die Tonbandgeräte in den Schränken mit.

Wie oft wurden Sie verhört?
Fast täglich. Am Wochenende war Pause, dafür wurde am Wochenbeginn nachgeholt. Ein Verhör dauerte durchschnittlich 5-8 Stunden, manchmal aber auch nur eine Stunde. Ich habe aber auch mal 22 Stunden am Stück erlebt. Die Offiziere haben sich abgewechselt, damit sie sich ausruhen konnten. Die Typen waren Schreibtischtäter, das waren Beamte. Die haben morgens um acht Uhr mit ihrer „Arbeit“ begonnen und wollten abends pünktlich Feierabend machen.

Wurde Ihre Familie als Druckmittel missbraucht?
Meine Mutter hatte gesundheitliche Probleme. In der Haft hat die Stasi mir gedroht: „Wenn Sie nicht reden, verhaften wir Ihre Eltern. Wir wissen, Ihre Mutter ist nicht gesund. Ob sie die Bedingungen bei uns während der Haft durchhalten würde, das können wir nicht garantieren. Wollen Sie nun aussagen?“ Und dann griffen sie zu extrem fiesen Methoden. Als ich aus dem Verhörzimmer in die Gefängniszelle gebracht werden sollte, klingelte plötzlich das Telefon. Ich stand noch im Türrahmen des Verhörbüros. Der Offizier nahm den Hörer ab und sagte bewusst zum Mithören: „Die Eltern verhaftet. Musste das sein?“ Heute weiß ich, unter seinem Schreibtisch war ein Knopf, um das Klingeln des Telefons auszulösen. In diesem Moment drehte ich mich um und sagte: „Was, Sie haben meine Eltern verhaftet. Die wissen doch gar nichts von meiner Flucht, das können Sie doch nicht machen.“ Darauf antwortete der Vernehmer: „Das geht Sie gar nichts an, aber vielleicht sind Sie morgen ein bisschen kooperativer und sprechen mit mir, z.B. über Ihre Freunde im Westen?“

Welche weiteren Druckmittel wurden bei Ihnen eingesetzt?
Nachdem ich während des Verhörs stundenlang auf dem Holzhocker sitzen musste, ließ sich der Offizier mein Lieblingsessen bringen und aß vor meinen Augen zu Mittag. Dann rauchte er die Zigarettenmarke, die auch ich rauche. Ich dachte: Nee, ich gucke zur Wand und zähle die Blätter auf der Tapete. Ich will nicht antworten. Einmal wurden mir auch die Gummizellen im Keller angedroht. „Wenn Sie hier nicht reden, wir haben auch andere Unterbringungsmöglichkeiten.“ In dieser Situation ging so der letzte Rest Heimat DDR für mich verloren. Am Tag durfte ich keinen Sport in der Zelle treiben, und ich durfte nicht auf der Pritsche sitzen, sondern nur auf dem Schemel, der in der Mitte der Zelle stand. Man musste aufrecht und gerade sitzen, Gesicht zur Tür.
Alles hing von der Laune der Wärter ab. Der Blickwinkel des Spions in der Zellentür umfasste auch die Toilette. Saß man zu lange darauf, wurde barsch befohlen: „Runter!“ Das war auch sehr peinlich, keinerlei Intimsphäre zu haben. Während des Schlafens musste ich auf dem Rücken liegen, Hände links und rechts neben mir. Von 22 Uhr bis 6 Uhr in der Nacht leuchtete über der Zellentür eine 70 bis 100 Watt Glühbirne alle 5 bis 30 Minuten abhängig vom Wärter. So hat die Stasi mich in den ersten Wochen bearbeitet. Irgendwann hatten sie es geschafft. Innerlich bin ich zusammengebrochen, war nervlich am Ende. „Wenn Sie hier nicht reden, wir haben Zeit. Um Sie kümmert sich draußen keiner mehr. Niemand weiß, wo Sie sind. Wenn Sie hier nicht reden, dann sitzen Sie hier Tage, Wochen, Monate. Und wenn wir das wollen, dann kommen Sie hier niemals raus!“

Was war für Sie am schlimmsten?
Am schlimmsten empfand ich, dass die Zeit nicht vergehen wollte. Dass jede Minute, jede Stunde, jeder Tag eine Ewigkeit war. Glasbausteine als Zellenfenster waren grauenhaft. Die ganze Zeit keine Blume, keinen Baum, keine Wiese, immer nur kahle Betonwände in der Zelle. Keine Besuche, keinen Rechtsanwalt, keine sonstige Ablenkung – absolute Isolation. In meiner Zelle achtete ich auf jedes Geräusch im Gefängnisflur. Einmal bekam ich mit, wie ein Inhaftierter mit seinen Fäusten gegen seine Zellentür schlug und schrie: „Ihr habt doch versprochen, mich zum Verhör zu bringen, Ihr habt es mir doch versprochen.“ Diese Situation geht mir heute noch durch Mark und Knochen, damals wurde die eigene innere Angst noch stärker und größer.

Wie ging es dann weiter?
In den ersten Wochen saß ich in der Zelle und im Verhör wie ein Häufchen Elend. Ich sagte einige Gedichte aus meiner Schulzeit immer wieder auf oder sang leise Lieder. Aus Sehnsucht nach Freiheit habe ich immer gesungen: „Ich war noch niemals in New York, ich war noch niemals auf Hawaii….“ Damit habe ich die Wärter oft zur Weißglut gebracht. Obwohl ich mich unglücklich, frustriert und wütend fühlte, war das für mich ein innerer Sieg. Doch nach etwa sechs Wochen lagen meine Nerven blank, da habe ich im Verhör gesagt: „Ich möchte sofort Literatur in meine Zelle, sonst werde ich hier verrückt und wahnsinnig.“ Da reagierte der „Untersuchungsführer“: „Wir sind doch keine Unmenschen, natürlich kriegen sie Literatur in Ihre Zelle.“ Und ich erhielt Bücher, die ich nun wirklich nicht lesen wollte. Ich wollte raus und bekam natürlich Reiseliteratur. Das war besonders grauenvoll, denn am Ende der Welt, an einem Ort der nicht existiert, bekam ich Bücher über die Tierwelt der Karibik oder einen Wanderurlaub in der Schweiz. Ich bin vor Wut gegen die Zellentür gesprungen. Daraufhin brachte man mich ins Haftkrankenhaus und stellte mich dort ruhig.

Wie verarbeiten Sie Ihre Haftfolgen?
Ich denke manchmal heute noch an die Ausweglosigkeit in den Verhören und in der Zelle. Noch heute schrecke ich aus Albträumen nachts hoch und schaue, ob ich „vorschriftsmäßig“ auf dem Rücken liege. In diesen Momenten werde ich wütend und frage, warum das nicht vergeht. Ich lerne auch, diese schreckliche Zeit als Teil meines Lebens anzuerkennen. Verdrängen hilft nur eine gewisse Zeit lang, aber irgendwann kommt alles wieder hoch. Da ich unter anderem von einem sehr guten Jugendfreund an die Stasi verraten wurde, stellt sich bei mir immer wieder Misstrauen ein, begleitet von Angst. Auch gegenüber Freunden und Bekannten heute. Das erschwert, Beziehungen und Freundschaften zu pflegen. Ich fühle mich unter Menschenmassen unwohl, leide unter Platzangst, ausgelöst durch die damaligen Fahrten in den engen, getarnten Stasitransportern.

Wie sind Sie freigekommen?
Meine Eltern hatten eine sehr gute Freundin aus Westberlin über meine Verhaftung informiert. Sie tat alles, von finanziellen Dingen bis hin zu ihrem Einsatz bei Anwälten in der Bundesrepublik. Ich hatte das große Glück, am 07. März 1988 freigekauft zu werden.

Haben Sie Ihre Stasi-Vernehmer jemals wieder gesehen?
Während meiner Arbeit im KaDeWe kam 1999 ein Kunde auf mich zu und kaufte für 1500 Mark Havanna-Zigarren. Der Herr, der mir begegnete, war etwa 40 Jahre alt, sehr schick, sehr modisch gekleidet. Ich erkannte einen der Stasioffiziere aus Hohenschönhausen wieder, diesen Modelltyp, den „guten“ Freund, der mir damals sagte: „Es werden für Sie fünf Jahre, wegen versuchten Grenzdurchbruchs und Unbelehrbarkeit.“ Mir wurde heiß und kalt, ich fing an zu zittern.
Was mach` ich denn jetzt bloß? Ich habe den Mann an seinem Ärmel festgehalten und sagte: „Wir kennen uns.“ Er fragte: „Ja, woher denn?“ „Sie waren vor 12 Jahren Stasioffizier im Gefängnis in Berlin-Hohenschönhausen und haben mich damals verhört. Ich war ein Jugendlicher, der doch nur die DDR verlassen wollte und sein Menschenrecht in Freiheit und in einer freien Gesellschaft zu leben, wahrnehmen wollte. Meinen Sie nicht, dass Sie Menschenrechte verletzt haben? Für das Regime der SED in der DDR?“ Er schaute mich an und sagte: „Was soll das jetzt, was wollen Sie von mir?“ Ich erwiderte: „Na ja, denken Sie vielleicht heute etwas anders über die Vergangenheit, reflektieren Sie, wollen Sie sich vielleicht mal bei mir entschuldigen?“ Und auf einmal merkte ich, wie sich sein Gesicht, starr und kalt, maskenhaft verwandelte.
Er sah mich hasserfüllt an und brüllte: „Wissen Sie, Reue ist was für kleine Kinder. Wofür soll ich mich bei Ihnen entschuldigen? Sie sind doch ein Verbrecher.“ In diesem Augenblick kamen in mir alle Verhöre, alle durchwachten Nächte in der Zelle, alle Erlebnisse aus diesem Gefängnis wieder hoch. Obwohl ich doch glaubte, meine Hafterlebnisse verarbeitet zu haben, bin ich zusammengebrochen und musste mit dem Notarzt in die Psychiatrie gebracht werden. Und erst nach mehreren Monaten im Krankenhaus habe ich durch meine Eltern und Freunde sowie die guten Ärzte wieder neuen Lebensmut gefunden. Sie haben mir gesagt: „Wenn Du jetzt aufgibst und keine Kraft mehr hast, hat die Stasi doch erreicht, was sie damals wollte.“

Wie verarbeiten Sie heute Ihre Erlebnisse?
Für mich ist es sehr wichtig, dass ich die heutige Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen als freier Mensch betreten kann. Als Besucherreferent mache ich den Gästen deutlich, dass die alten Stasi-Seilschaften wieder funktionieren. Gerade in Berlin. Getarnt unterm demokratischen Deckmantel. Wir haben heute die Schlüssel des Gefängnisses in der Hand, und ich kann durch das Gefängnistor einfach gehen. In der Gedenkstätte kann ich mit Besuchern kontrovers diskutieren und werde dafür nicht in eine Zelle gesteckt. Das ist ein ganz tolles Gefühl.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Ich will keinen Hass, keine Rache, keine Vergeltung. Hass zerstört mich nur selbst. Ich würde nur verbittert in die Vergangenheit zurückschauen, ohne freien Blick für die Zukunft, die ich selbst mitgestalten möchte. Mir geht es vielmehr um Wahrhaftigkeit. Es muss klar sein, dass die DDR eine Menschen verachtende Diktatur gewesen ist. Diese Tatsache kann ich als ehemaliger politischer Häftling an keinem Ort besser verdeutlichen als in der heutigen Gedenkstätte. Ich wünsche mir, die ehemals von kommunistischer Diktatur verfolgten Menschen in Ostdeutschland würden endlich ordentlich geehrt und ein zentrales Denkmal erhalten wie etwa die während der Nazidiktatur ermordeten Juden im Zentrum Berlins.

 

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