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Franziska Vu

 

Horst Jänichen

Geboren 1931 in Berlin. Dort wurde er im April 1946 durch das sowjetische Ministerium für Staatssicherheit (MGB) verhaftet. Der 15-jährige wurde, wie Tausende andere Jugendliche in dieser Zeit, zu Unrecht verdächtigt, einer nationalsozialistischen Terrororganisation anzugehören, dem so genannten Werwolf. Nach seiner Entlassung 1948 berichtete er über seine Lagerhaft und verteilte Flugblätter im Ostteil Berlins. Jänichen engagierte sich in einer politischen Widerstandsorganisation, der Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit (KgU). Daraufhin wurde er erneut verhaftet, im Dezember 1950, durch das neu gegründete DDR-Ministerium für Staatssicherheits (MfS).

Warum wurden Sie 1946 inhaftiert?
Als der Krieg zu Ende war, bin ich ohne Gefangenschaft nach Hause und wieder zur Schule gegangen. Am 23. April 1946 bin ich unter „Werwolfverdacht“ verhaftet worden. Ich war wie andere nie ein Werwolf, was die Russen aber nicht hinderte, eine Vielzahl junger Leute zu inhaftieren und in diese Lager zu stecken. Ich bin in ein Kellergefängnis nach Friedrichsfelde gebracht worden, von dort wurde ich in das Speziallager 3 nach Hohenschönhausen transportiert, das spätere zentrale Untersuchungsgefängnis des sowjetischen Geheimdienstes für die „Sowjetische Besatzungszone“. Ab 1951 wurde dieses Kellergefängnis vom DDR-Ministerium für Staatssicherheit (MfS) genutzt, das so genannte „U-Boot“.

Wie wurden Sie inhaftiert?
Ich bin zu Hause verhaftet worden, und man brachte mich nach Friedrichsfelde in einen so genannten GPU-Keller, die in Wohnblöcken eingerichtet waren. Es war im April 1946, ein sehr warmes Frühjahr. An meinem letzten Ferientag hat es zehn Minuten vor sechs Uhr geklingelt. Es standen zwei Zivilisten vor der Tür. Einer hatte so einen Staubmantel an und man sah am Hals die russische Uniformjacke: „Sind Sie Horst Jänichen? Sie mögen mal mitkommen“.
Ich sollte Kopfkissen und Decke mitnehmen, es könnte zwei, drei Tage dauern. Und meine Mutter hat gesagt: „Du ziehst Dir eine Skihose und eine Joppe an.“ Es war aber sehr warm, und ich habe protestiert. Gott sei Dank setzen sich Mütter meistens durch. Ich zog Joppe und Skihose an, und so hatte ich in dem kalten Winter im Kellergefängnis etwas Warmes zum Anziehen. Andere Mithäftlinge wurden im Sommer in Hemden mit kurzen Ärmeln verhaftet und mussten in dieser Kleidung im kalten Winter Appell stehen. Insofern war ich begünstigt.

Wie ging es weiter?
Von Hohenschönhausen aus wurde ich in das ehemalige NS-Konzentrationslager Sachsenhausen gebracht und erst nach mehr als zwei Jahren Haft wieder entlassen. Bei unserer Entlassung wurden wir zur Verschwiegenheit verpflichtet. Wir durften also nicht über unsere schlimme Zeit im sowjetischen Internierungslager reden.

Wie hat man Sie behandelt?
Schlafen durfte man von 22.00 bis 6.00 Uhr, die Vernehmungen waren nachts. Aber am Tag durfte man nicht schlafen. Das wurde regelmäßig kontrolliert. Gerade mal Sitzen war erlaubt, doch musste man immer in der Mitte der Pritsche sitzen. Man konnte sich also nicht anlehnen. Darauf wurde streng geachtet. Wenn man einmal eingeschlafen war, musste man eine Stunde stehen. Ich war sechs Wochen in diesem Keller. In diesen sechs Wochen durfte ich mich kein einziges Mal waschen. In der ersten Zelle, in die ich kam, war ein Mensch, etwa 40 Jahre alt. Ich dachte erst, der hat eine Macke, der sah völlig verwahrlost aus. Er vegetierte dort schon drei Monate. Ein Vierteljahr nicht gewaschen, ein Vierteljahr nicht rasiert, ein Vierteljahr nicht Haare geschnitten, ein Vierteljahr nicht gekämmt, so sah der auch aus. Da waren wir Jüngeren besser dran, denn wir hatten noch keinen Bartwuchs.

Wie wurden Sie verhört?
Bei den Vernehmungen wurden die Menschen misshandelt. Ich habe keine Vernehmung erlebt, in der ich nicht mindestens eine Ohrfeige gekriegt habe. Wir sind also geschlagen und getreten worden.

Wie erging es Ihnen nach Ihrer Entlassung?
Meine Mutter habe ich nie wieder gesehen. Sie war schon im Oktober 1946 gestorben. Das habe ich erst zwei Jahre später erfahren, als ich entlassen wurde. Ich habe zu Hause geklingelt, und eine fremde Frau hat die Tür aufgemacht. Mein Vater hatte eine neue Frau. Ich hatte zuvor Blumen von meinem Entlassungsgeld gekauft, die habe ich dann zum Friedhof gebracht. Meine Mutter ist 500 Meter Luftlinie vom Lager Hohenschönhausen gestorben, und ich habe es nicht gewusst.Ich habe mich dann mit einigen Freunden zusammen getan. Wir haben uns an die Vorwürfe erinnert, die man den Deutschen 1945 gemacht hat: „Ihr habt von den Untaten der Nazis gewusst und geschwiegen.“ Diesem Vorwurf wollten wir uns nicht erneut aussetzen. Wir sind nach West-Berlin zur KgU gegangen und haben über unsere Erlebnisse in den sowjetischen Internierungslagern berichtet. Dort bekamen wir Flugblätter, die wir im Ostteil der Stadt verteilten. Das waren regelmäßige Aktionen. Mit Pinsel und Farbe haben wir ein großes „F“ an die Wand gemalt. Das war das Signum der Kampfgruppe gegen die Unmenschlichkeit. Die Menschen erkannten dieses Zeichen. Und am 1. Mai 1949 haben wir von der KgU Flugblätterraketen erhalten. Das waren Papprohre mit Streuzettel, die antikommunistische Parolen enthielten. Wir haben die Flugblätterraketen während der Maidemonstration am Alexanderplatz abgeschossen. Am 29. Dezember 1950 sind wir dann wieder verhaftet worden.

Hatten Sie nicht, gerade wegen Ihrer schrecklichen Hafterlebnisse, Angst wieder in Haft zu kommen?
Angst, dass ich erwischt werde, hatte ich immer. Aber man glaubt immer, man wird nicht erwischt. Wie jeder, der etwas Verbotenes macht. Wir kannten natürlich das Risiko, gerade weil wir schon einmal inhaftiert waren. Ich würde heute, über ein halbes Jahrhundert später, ähnlich reagieren. Immer in der Hoffnung, dass so eine Situation nicht mehr kommt.

Wie lange dauerte die zweite Haft?
Ich musste wieder in ein solches Kellergefängnis, jetzt beim DDR-Staats-sicherheitsdienst. Ich bin zu acht Jahren Zuchthaus und den obligatorischen Sühnemaßnahmen verurteilt worden. Während der Haft wurde ich noch wegen Gefangenenmeuterei zu einer zusätzlichen Gefängnisstrafe von zweieinhalb Jahren verurteilt. Wir hatten einen Ausbruchsversuch vorbereitet. Wir waren zu zehnt, und ab drei Personen gilt das als Meuterei. Diese zweieinhalb Jahre Gefängnis hat man mir später auf Bewährung erlassen, die übrigen acht Jahre Zuchthaus habe ich in Berlin-Rummelsburg, im „Roten Ochsen“ in Halle und überwiegend im berüchtigten Zuchthaus Waldheim verbüßt.

Was bedeuten die obligatorischen Sühnemaßnahmen?
Diese waren mit Ehrverlust verbunden und in der DDR bis 1958 üblich. Die Sühnemaßnahmen bedeuteten: Man durfte weder Mitglied einer Partei, noch einer Gewerkschaft sein. Man durfte weder wählen, noch gewählt werden. Man durfte keine Zuwendungen aus öffentlichen Kassen beziehen und unterlag Wohnraum- und Aufenthaltsbeschränkungen. Man durfte nur mit einfacher Arbeit beschäftigt werden. Man durfte für die Dauer von fünf Jahren nach der Freilassung weder ein Kraftfahrzeug führen, noch halten. Das ist, wenn Sie so wollen, das Ende der bürgerlichen Existenz.

Wussten Sie, wo Sie inhaftiert waren?
Bei der ersten Inhaftierung bei den Russen war das kein Geheimnis. Ein Geheimnis wurde es erst beim DDR-Staatssicherheitsdienst. Bei meiner zweiten Inhaftierung bekam ich eine Schweißerbrille aufgesetzt, und mir wurden die Hände auf dem Rücken gefesselt. In dem engen Transporter saßen neben mir ein Begleiter und vor mir noch zwei weitere. Dann sind wir losgefahren. Eigentlich eine Fahrstrecke von 10 Minuten, doch wir sind fast eine Stunde gefahren. Ich habe Straßenbahnen quietschen hören und auch die Geräusche einer Hochbahn erkannt. Da wusste ich, dass ich in der Schönhauser Allee war, woanders gab es keine Hochbahn. Plötzlich war die Hochbahn wieder weg, dann kam sie wieder, dann war sie noch mal weg. Da wusste ich, die Stasi fährt mit mir im Kreis. Bald haben Sie mich in das Untersuchungsgefängnis Hohenschönhausen gebracht und mir dann die Brille abgenommen.

Welche Druckmittel hat der Staatssicherheitsdienst angewendet?
Eigentlich ist solch ein Kellergefängnis schon psychische Folter, auch ohne dass einem etwas angetan wird. Beim Staatssicherheitsdienst war es die Einzelhaft, keine Verbindung nach draußen, nichts, womit man sich beschäftigen konnte. Man musste den Tag nutzlos verbringen. Wenn man endlich einmal schlafen konnte, wurde man zur Vernehmung geholt. Am nächsten Tag musste man wieder wach bleiben, so dass auch Schlafentzug ein Teil der psychischen Folter war. Geschlagen wurde ich bei der Stasi übrigens nicht. Doch hat mich diese ständige Einzelhaft schwer belastet. Die Zeit verging nicht.

Was war für Sie das Schlimmste?
Das ist ganz schwer zu sagen. Bei der ersten Haft war für mich das Schlimmste, der Moment, als ich nach Hause kam. Als ich erfuhr, dass meine Mutter schon so lange tot war. Das war damals für mich das Schlimmste. Auch diese Schläge bei den Russen waren furchtbar. Ein Freund von mir starb im Lager an TBC. Die TBC-Kranken waren gesondert untergebracht. Ich versprach meinem Freund, dass ich seine Mutter nach meiner Haftentlassung informiere. Ich habe ihm immer gesagt: „Das ist Quatsch, das erledigst Du selbst.“
Aber ich wusste, mein Freund kommt nicht wieder lebend aus dem Gefängnis heraus. Und die erste Frau, der ich begegnet bin, war seine Mutter. Als sie hörte, dass ich wieder zu Hause bin, hat sie mich gefragt: „Was ist mit Helmut?“ Ich konnte es ihr erst nicht erzählen. Ich habe es ihr später erzählt. Das war ganz furchtbar. Das war für mich auch ein ganz schlimmes Erlebnis. Der Mutter meines Freundes sagen zu müssen: „Du, Dein Sohn kommt nicht mehr wieder.“ Das habe ich mich in dem Moment nicht getraut.

Wie erging es Ihnen nach der Entlassung?
Ich bin am 9. Januar 1959 aus dem Zuchthaus Waldheim entlassen worden und nach Berlin-Lichtenberg zurückgekehrt. Nachdem ich einen Personalausweis erhalten hatte, verließ ich Ostberlin einen Tag später mit der S-Bahn. Dann meldete ich mich in West-Berlin im Aufnahmelager Berlin-Marienfelde als Flüchtling. Ich lebe also seit 1959 im Westteil der Stadt.

Was empfinden Sie für die Leute, die Ihnen so etwas angetan haben?
Wenn Sie mich so fragen, ich empfinde keinen Hass. Das ist Vergangenheit. Das ist vorbei. Die Leute waren vielleicht von ihrem Staat überzeugt. Ich mache häufig Führungen in Sachsenhausen und werde immer wieder gefragt: „Gibt es einen Unterschied zwischen der Zeit vor 1945 bei den Nazis und nach 1945 bei den Russen?“ Aus meiner Sicht gibt es da Unterschiede. Ich denke, Gestapo-Keller, Stasi-Keller und NKWD-Keller kann man miteinander vergleichen. Da gibt es kaum Unterschiede. In dem Moment, in dem man im Lager war, nach dem Krieg, hatte man seine „Ruhe“. Da ist niemand körperlich gefoltert, da ist auch keiner erschossen oder erhängt worden. Die Menschen vegetierten einfach, warteten auf den nächsten Tag, wenn man so will, auf den Tod.
Der Unterschied ist folgender: Vor 1945 waren es Todeslager, nach 1945 waren es Sterbelager. Ein weiterer Unterschied: Bei Todesfällen vor 1945 wurde den Angehörigen die Urne ausgehändigt. Bis heute haben aber die Angehörigen, die nach 1945 in den sowjetischen Internierungslagern Todesfälle zu beklagen hatten, keine offizielle Todesnachricht bekommen. Es kommt auch nicht darauf an, ob jemand schuldig oder unschuldig sitzt. Auch Schuldige haben ein Recht auf menschenwürdige Behandlung. Dies war in beiden Systemen leider nicht so.

Wie verarbeiten Sie Ihre Erlebnisse?
Bei mir liegt das ja nun schon sehr lange zurück. Ich habe inzwischen einiges relativiert. Los lässt es einen nie. Zehneinhalb Jahre Haft bleiben nicht in der Anstaltskleidung stecken. Man träumt, man vergisst das nicht. Meine Frau hat mich nachts mehr als einmal geweckt. Sie sagt: „Du schreist.“ Im Unterbewusstsein ist das immer vorhanden. Du wirst es nicht los. Die Führungen, die ich hier in der Gedenkstätte Hohenschönhausen leite, sind eigentlich weniger für mich selbst eine Aufarbeitung. Wenn man aber zehneinhalb Jahre im Zuchthaus gesessen hat, weil man den Mund nicht gehalten hat, dann wäre dies vertane Zeit, würde man den Mund halten, wenn man endlich reden darf. Und deswegen bin ich hier. Richtig bewusst geworden ist es mir erst wieder nach der politischen Wende 1989, als man die Massengräber in Sachsenhausen gefunden hatte. Ein Freund von mir liegt in so einem Massengrab. Als die Gräber aufgemacht wurden, ist mir das natürlich wieder in den Kopf gekommen.

Sie haben ab 1959 in Westberlin gelebt. Wie war Ihnen zu Mute, als Sie durch die DDR gereist sind?
Bis 1972 bin ich nur geflogen. Einmal im Jahr hat der Berliner Senat eine Flugreise für politische Flüchtlinge, die nicht durch die Zone fahren durften, nach Hannover bezahlt. Dann musste man von Hannover die weitere Reise antreten. Mit Abschluss der innerdeutschen Verträge im Jahr 1972 wurden wir aus der Staatsbürgerschaft der DDR entlassen und durften wieder in die DDR ein- und durchreisen. Meine Schwiegereltern, die in Ludwigsfelde wohnten, stellten einen Einreiseantrag für uns. Ich bin dann mit meiner Frau und meinen Kindern eingereist und saß am Steuer. Meine Frau sagte damals: „Man, du bist ja ganz blass.“ Ich sah wieder Leute mit Uniformen da rumtoben. Ich habe zu meiner Frau gesagt: „Übernimm Du mal das Steuer, gib mir die Papiere, ich erledige hier alles.“ Das war ein bisschen Aktionismus. Erst wenn ich wieder Westberlin erreicht hatte, war es mir eigentlich schön. Man war sehr burschikos, und ich tat so, als ob es mir nichts ausgemacht hat. Aber in Wirklichkeit hat es mich immer bedrückt, und ich war immer froh, wenn ich ungeschoren in Westberlin gelandet bin.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Ach wissen Sie, ich bin in der Zielgeraden. Bei mir ist nicht mehr viel zu erwarten. Ich wünsche mir, dass ich so weiterleben kann, wie ich es in den letzten Jahren konnte. Ich bin eigentlich, wenn man so will, mit meinem Leben zufrieden. Das hängt sicherlich auch damit zusammen, dass wir in der Hochzeit des Kalten Krieges entlassen worden sind, nämlich 1959. Wir haben alle eine viel längere Haftzeit hinter uns, als die später Inhaftierten, aber uns hat man geholfen. Wir sind untergebracht worden, im öffentlichen Dienst zum Beispiel. Man hat gesagt: „Wir beschäftigen Euch mit einer Tätigkeit, und was Ihr daraus macht, ist Eure Sache.“ Aber man hat den Anschluss bekommen.
Diejenigen, die in der Spätphase der DDR inhaftiert waren, die sind, auf Deutsch gesagt, ganz beschissen dran. Die sind in der DDR nichts geworden, weil sie dagegen waren und werden jetzt nichts, weil sie in der DDR nichts geworden sind. Ein Leben praktisch an der Sozialhilfegrenze. Das muss sich ändern.

 

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