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Franziska Vu

 

Sigrid Paul

Geboren 1934 in Dommitsch bei Torgau an der Elbe. Sie erlernte den Beruf der Zahntechnikerin, heiratete 1957 Hartmut Rührdanz und zog zu ihm nach Ost-Berlin. Im Januar 1961 wurde ihr Wunschkind Torsten geboren, der leider mit Problemen auf die Welt kam, da die Ärzte bei der Entbindung gepfuscht hatten. Die Ärzte im Ostteil der Stadt waren fachlich überfordert, so dass die Mutter ihren Sohn in die Universitätsklinik nach Westberlin brachte. Da die Eltern nach dem Mauerbau keine Ausreiseerlaubnis erhielten, um zu ihrem immer noch kranken Baby zu kommen, entschieden sie sich zur Flucht mit gefälschten Pässen. Leider missglückte ihr Fluchtversuch. Im Februar 1963 wurde Sigrid Paul inhaftiert, nachdem sie die drei Studenten, die sie bei ihrem Fluchtversuch kennen gelernt hatte, bei sich hatte übernachten lassen. Diese wollten durch einen Tunnel in der Brunnenstraße flüchten. Dieses Vorhaben wurde aber an die Stasi verraten.

Wie wurden Sie inhaftiert?
14 Tage nach dem Fluchtversuch der Studenten bin ich auf dem Weg zu meiner Dienststelle direkt auf der Strasse gekidnappt worden. Ich bin morgens so gegen 7.30 Uhr zur Bushaltestelle gegangen. Auf dem Weg dorthin kamen zwei Männer auf mich zu, packten mich an den Oberarmen und hielten mich fest. Dann fuhr eine schwarze Limousine vor, ich wurde ins Auto gedrückt und war für die Öffentlichkeit verschwunden. Man brachte mich in die Normannenstrasse. Dort war das Ministerium für Staatssicherheit (MfS).

Hat niemand versucht, Ihnen zu helfen?
Der Busfahrer hat den Vorfall beobachtet. Er hat noch den Bus vorgezogen, gehalten und die vordere Tür aufgemacht. Ich habe mich natürlich gewehrt und laut geschrieen. Gegen die beiden starken Männer hatte ich aber keine Chance.

Wie wurden Sie behandelt und verhört?
Meine erste Vernehmung dauerte 22 Stunden. Was ich anhand meiner Stasiakten auch belegen kann. Ein 22 Stunden dauerndes Verhör ist psychische Folter. Es gab fast keine Pausen. Ich durfte nur auf die Toilette. Wenn es soweit war, hat man mich in eine Zelle gebracht. Dort stand ein Kübel anstelle einer Toiletten und es gab etwas zu trinken. Aber am Anfang stand ich so unter Schock, dass ich weder essen noch trinken konnte. Nach dieser endlosen Vernehmung hat man mich in einen Transportwagen gesetzt. Darin gab es kein Fenster, keine Luke, keinen Lichtschlitz. Ich wurde irgendwohin gebracht und wusste nicht mehr, wo ich war. Ich hörte irgendwann mal Tore quietschen, und als der Wagen sich öffnete, war ich in einem Gebäude. Ich habe erst viele, viele Jahre später erfahren, dass ich im zentralen Untersuchungsgefängnis des Ministeriums für Staatssicherheit in Berlin-Hohenschönhausen war. In der Zentrale des Terrors.

Worum ging es bei den Verhören?
Bei den Verhören standen immer diese drei Studenten im Mittelpunkt, die bei uns Quartier bekommen hatten. „Wie haben Sie sich kennen gelernt? Mit welchen Absichten sind die drei jungen Leute zu Ihnen gekommen? Weshalb haben Sie Ihnen ein Quartier gegeben?“ Ich versuchte natürlich, alles runter zu spielen. „Wir sind jung, wir haben gleiche Interessen. Wir sind zusammen gerudert, gesegelt….“ Natürlich habe ich mich gegen das Geständnis gewehrt, dass wir uns bei einem gemeinsamen Fluchtunternehmen kennen lernten. Wahrscheinlich dauerte das Verhör deshalb so wahnsinnig lange. Jahre später haben wir erfahren, dass die Stasi uns auch der Spionage verdächtigt hatte. Da war aber nichts dran. Wir hatten mit keinem Geheimdienst Kontakt, wir haben nicht spioniert.

Was geschah mit Ihrem Mann, nachdem Sie gekidnappt worden waren?
Mein Mann ist aus der Wohnung geholt worden. Die Stasi-Vertreter haben geklingelt und den bekannten Satz gesagt: „Wir bitten um ein Gespräch zur Klärung eines Sachverhaltes.“ Ich erfuhr sehr schnell, dass mein Mann auch inhaftiert worden war.

Wie haben Sie sich beim Verhör gefühlt?
Bei einer 22-Stunden-Vernehmung kommt man sicherlich irgendwann an einen Punkt, an dem man total erschöpft ist. Bei mir war das nicht so. Ich muss wohl unter Adrenalin gestanden haben, so dass ich einfach nicht abschalten konnte. Nach 17 oder 19 Stunden merkte ich, dass mir plötzlich eine innere Kraft zuwuchs. Also habe ich für mich beschlossen zu schweigen. Und ich spürte, wie eine imaginäre Mauer in meinem Körper wuchs. Immer höher und immer fester. Diese Mauer schützte mich vor den unangenehmen Fragen, denen ich schon seit Stunden ausgesetzt war. Die Vernehmer wechselten alle drei bis vier Stunden. Es waren immer drei bis vier Vernehmer, die gleichzeitig versuchten, Fragen zu stellen. Jedenfalls habe ich dann für mich beschlossen: ich bin unschuldig, ich habe niemanden umgebracht, ich habe niemanden bestohlen. Die müssen mich jetzt nach Hause lassen. Ich habe mir gesagt: Kein Wort mehr. Und das habe ich eingehalten. Die hätten mich in diesem Moment an die Wand stellen und erschießen können; ich hätte mich nicht gewehrt. Mein Entschluss, standhaft zu schweigen, funktionierte. Mit der Folge, dass ein Vernehmer hinter mir stand und ganz laut sagte: „Ihr Mann ist auch hier.“ Da habe ich nicht reagiert. „Sie glauben uns das wohl nicht.“ Ich habe immer noch nicht reagiert. „Wir müssen Ihnen wohl erst einen Beweis bringen.“ Keine Reaktion meinerseits. Ich hatte meine Mauer gebaut. Das führte dazu, dass ich eine halbe Stunde später einen Zettel auf meinem Oberschenkel fand. Darauf stand in der Handschrift meines Mannes: „Mach` mit der Vergangenheit ein Ende und fang mit mir eines Tages wieder von vorne an, Hartmut!“ Und da wusste ich, ihn hat man auch festgenommen.

Wie lange waren Sie in Hohenschönhausen?
Ich durfte meinen Anwalt ein halbes Jahr nicht sprechen. Nach knapp sechs Monaten Untersuchungshaftanstalt in Berlin wurden wir in die Stasi-Untersuchungshaftanstalt Rostock verlegt. Im August 1963 wurden wir verurteilt. Im Gerichtssaal sahen wir auch die drei Studenten wieder, die man in Haft genommen hatte. Und am Ende wurden mein Mann und ich wegen Beihilfe zur Republikflucht zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt. Wir wurden nicht nach dem Strafgesetzbuch der DDR verurteilt, sondern nach dem Strafergänzungsgesetz: „Wegen gemeinschaftlichen Handelns zum illegalen Verleiten zum Verlassen der DDR.“ Die DDR versuchte bei einer Erstinhaftierung immer die Höchststrafe zu verhängen, niemals die Mindeststrafe. Mein Mann und ich mussten dann noch etwa  sechs Wochen in der Haftanstalt in Rostock bleiben. Getrennt von einander wurden wir wieder in die Untersuchungshaftanstalt Berlin-Hohenschönhausen zurückgebracht und dort im Arbeitsprozess eingesetzt. Nach 19 Monaten Stasihaft wurden mein Mann und ich von der Bundesregierung freigekauft. Trotz des Freikaufs wurden wir nicht zu unserem immer noch kranken Sohn nach West-Berlin entlassen.

Was waren Ihre Aufgaben?
Ich musste zu Beginn dreieinhalb Monate im U-Boot verbringen und gehörte zum Putzkommando. Wir wurden nachts um zwei Uhr geweckt, mussten Gänge und Vernehmerräume reinigen, Kübel sauber machen und ähnliches. Stets mussten wir vier bis fünf Stunden arbeiten, ehe wir überhaupt ein Frühstück erhielten. Zwischen sieben und acht Uhr war die Reinigungsarbeit beendet, dann konnte man duschen und frühstücken. Anschließend musste ich Näharbeiten in einem Raum unterm Dach ohne Fenster verrichten. Später wurde mir in dem neuen Zellentrakt in einer Kellerzelle ein Zahntechnikerlabor eingerichtet. So konnte ich in meinem Beruf arbeiten. Die Stasi ließ fast alle Dienstleistungen von Häftlingen erbringen.

Wie ging es Ihnen bei der Arbeit? Was für Erfahrungen haben Sie gemacht?
Der Einsatz im Putzkommando war nicht das Schwerste für mich. Da war ich eigentlich froh, dass ich arbeiten konnte und abgelenkt war. Schlimmer war für mich, aber das hängt mit meiner Persönlichkeit zusammen, um zwei Uhr früh aufstehen zu müssen. Das war eine Schwierigkeit für mich, aber daran konnte ich mich langsam gewöhnen. Als Zahntechnikerin habe ich zu einer christlichen Zeit mit der Arbeit begonnen. Die Anstaltsleitung hat darauf geachtet, dass man nicht mehr als acht Stunden arbeitete. Da ging es mir wesentlich besser. Mein Kellerlabor lag neben zwei Arrestzellen, den Gummizellen. Als ich dort arbeitete, hörte ich das Schreien eines Mannes, der in der Gummizelle lag: „Hier kommen wir nie wieder raus.“ Das schrie er Tag und Nacht. Er wusste ja nicht, wann Tag und wann Nacht war. Nach ca. drei Wochen holte die Stasi den armen Mann aus der Gummizelle heraus. Ich wurde sofort abkommandiert, um die Zelle zu reinigen. Zwar war ich offiziell nicht mehr dem Putzkommando zugewiesen, doch drückte man mir einen Eimer und einen Schrubber in die Hand. Jetzt musste ich in dieser Gummizelle Kot- und Blutspuren beseitigen. Das vergisst man nicht. Man vergisst die Schreie nicht, und man vergisst auch diese Situation nicht.

Haben Sie einen Ihrer Vernehmer nach der Haft wieder gesehen?
Seit der Wende 1990 suche ich meinen Vernehmer. Ich möchte mit ihm mal, jetzt wo wir alle in Freiheit leben, ein Gespräch führen. Er weiß dies, aber er weigert sich. Vor einigen Jahren habe ich vermutet, der wartet die Verjährung ab und ist feige. Nach Ablauf der Verjährungsfrist klingelt er vielleicht bei mir, denn er weiß, wo ich wohne. Aber vor einigen Wochen habe ich erfahren: Der Vernehmer ist auch jetzt nicht bereit, mit mir zu sprechen. Er blockt ab, wörtlich. So feige sind diese Leute. Jetzt, da wir alle in der Freiheit angekommen sind und uns in Augenhöhe unterhalten könnten, da ich ihm auch mal Fragen stellen könnte und nicht er das Gespräch diktiert, da sind sie zu feige, mit einem ins Gespräch zu kommen.

Was empfinden Sie für diesen Menschen?
Ein armer Irrer. Für mich ist das ein Mensch ohne Charakter. Als die Stasi Macht und Waffen hatte und uns Häftlinge demütigen konnte, da haben sie das gnadenlos ausgespielt. In der Freiheit sind sie zu feige für ein Gespräch. Ich will ihm ja nicht das Messer an die Kehle setzen. Ich möchte mich nämlich nicht belasten. Das liegt mir fern. Aber an diesem Verhalten erkenne ich, das sind arme, irre, feige Menschen. Zu einer Entschuldigung sind die doch gar nicht fähig, das erwarte ich nicht. Er soll mir aber wenigstens einzelne Punkte meiner Anklageschrift erklären.

Wurden Sie während der Haft über Ihren kranken Sohn informiert?
Während der Untersuchungshaft hatte ich keinen Kontakt zu meinem Sohn.
Da hatte ich ja auch keinen Kontakt zu den Angehörigen, zu meinem Anwalt und auch keine Schreiberlaubnis. Also wusste ich auch nach einem halben Jahr nicht, wie es meinem Sohn geht. Nach der Verurteilung fand ein Gespräch mit dem Anwalt statt, anschließend konnte ich regelmäßig Post empfangen. Erlaubt war, einmal im Monat einen Brief mit 21 Zeilen zu versenden. Außerdem hatte man einmal im Quartal 40 Minuten Sprecherlaubnis mit einem Angehörigen. Man wurde für das Gespräch nach Berlin-Rummelsburg gebracht. Bei den Gesprächen bekam ich natürlich Informationen über den Gesundheitszustand meines Sohnes. Zu unserer großen Überraschung erhielten wir kurz vor Weihnachten sogar einen Brief des behandelnden Arztes, der den Gesundheitszustand von Torsten schilderte.

Wie erging es Ihnen in dem Moment?
Es war sehr schwer. Das ist ein Punkt, wenn Sie mich auf meinen Sohn ansprechen, dann kriege ich mich nicht mehr ein. Da kann ich erstmal nicht weitermachen.

Waren Sie in Einzelhaft?
Nein, ich war immer in einer Gemeinschaftszelle. Außer einmal zehn Tage in Rostock. Da erhielt ich Steharrest, genau während der Prozesstage. Im Putzkommando war ich mit mehreren Frauen untergebracht, im berüchtigten U-Boot. Während meiner Arbeit als Zahntechnikerin kam ich häufig mit anderen Frauen zusammen, da war ich im Keller des neuen Zellentraktes inhaftiert.

Konnten Sie mit Ihrem Mann sprechen?
Für die vier inhaftierten Ehepaare hatte die Stasi Sondersprecherlaubnis eingerichtet. Einmal im Monat konnte man dreißig Minuten mit seinem Ehepartner sprechen; unter Bewachung. Berühren durften mein Mann und ich uns nicht, aber wir konnten uns für eine halbe Stunde sehen.

Was war das Schlimmste für Sie?
Da fange ich gleich wieder an zu heulen. Es ist schwierig darüber zu reden. Also ganz schwer war dann eben doch, wenn man Post bekam oder eine Information über den Gesundheitszustand meines Sohnes. Wenn ich keine Post bekam, keine Nachricht hatte, dann spielten die eigenen Vorstellungen eine stärkere Rolle. Aber manchmal kam der Punkt, da war ich unausstehlich, da konnte ich mich nicht beherrschen. Ich heule heute noch, wenn ich daran denke. Die Gedanken an meinen Sohn waren das Schlimmste, nicht das Strafmaß, nicht die Situation, nicht das Umfeld.

Wie verarbeiten Sie Ihre Erlebnisse?
Die Führungen in der Gedenkstätte haben mir sehr geholfen. Es war natürlich ein sehr, sehr schwieriger Weg. Aber die Erfahrung, darüber sprechen zu können, hat mir sehr geholfen, meine Erlebnisse von damals zu bewältigen. Außerdem habe ich etwas zu Papier gebracht. Ich denke, auch das ist eine Form der Bewältigung.

Haben Sie Folgen davon getragen?
Danach bin ich noch nie gefragt worden, aber dann erzähle ich Ihnen etwas sehr Persönliches. Ich habe eine sehr schöne, helle Wohnung mit Fenstern nach drei Seiten, habe keine Türen in der Wohnung und keine Vorhänge vor den Fenstern. Das ist einfach eine Folge der Inhaftierung.

Wie erging es Ihnen nach der Haftentlassung?
Ich hatte das ganz besondere Glück, dass meine Chefin mich nicht entlassen hatte; weder nach der Inhaftierung noch nach der Verurteilung. Als ich freigekauft wurde, konnte ich meine Tätigkeit als Zahntechnikerin in der DDR nahtlos fortsetzen. Aber ich konnte nach wie vor nicht in den Westen reisen. Als mein Sohn endlich im Sommer 1965 nach Hause zurückkehren konnte, war er fast fünf Jahre alt.

Was wünschen Sie sich für Ihre Zukunft?
Ich habe keine großen Zukunftspläne. Seit Jahren habe ich mich so eingerichtet, dass ich in der Gegenwart lebe. Ich versuche immer, das Beste aus dem Leben zu machen. Ich bin vor vielen, vielen Jahren angesprochen worden, meine Erlebnisse aufzuschreiben. Zehn Jahre lang sträubte ich mich, dann habe ich doch angefangen zu schreiben. Inzwischen habe ich den Text beendet. Es ist mein Wunsch, meine Hoffnung für die Zukunft, dass diese Schrift mit dem Titel „Mauer durchs Herz“ einmal in Buchform vorliegt. Es sieht ganz optimistisch aus.

 

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